Aus dem unvollendeten Zyklus «Gelobtes Land» 2022,
© Oleg Ljubkiwskij
ProgrammZeitung aus dem Aprilheft 2022, S. 12/13
Ukrainische Kulturschaffende melden sich zu Wort
Judith Schifferle, Sabine Knosala
Der Krieg mit Russland erschüttert die Ukraine. Die ProgrammZeitung hat bei fünf ukrainischen Kulturschaffenden, drei im Kriegsgebiet und zwei wohnhaft in der Region Basel, nachgefragt, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen.
Mark Belorusetz, geboren 1943, Übersetzer, Kiew, Foto: Belorusetz
Mark Belorusetz
Im Krieg geht die Arbeit schlecht. Ich muss Nachrichten hören, und die Gedanken an unsere Verwundeten, Obdachlosen oder Geflüchteten verunmöglichen die innere Ruhe, die für eine solche Arbeit wichtig wäre. Dennoch vertiefe ich mich regelmässig in ein Gedicht. Ich übersetze, um den Krieg für eine Stunde zu vergessen. Poesie erschafft und entwickelt die Sprache – auch die alltägliche. Es ist ein Eindringen der Sprache in Alltäglichkeit – so sagt es Paul Celan. Nur die Sprache erlaubt, die Wirklichkeit zu entdecken, auch die Wirklichkeit des Krieges, die Wirklichkeit des Friedens, die Wirklichkeit des Humanismus. «Wirklichkeit», sagte Celan, «ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.»
Dann kommen wieder die guten und schlechten Nachrichten, Anrufe und Briefe aus der ganzen Welt: Wie geht es? Hat man bei euch geschossen? Gibt es was zu essen? Ich schreibe Briefe, ich rufe zurück. Ich frage dasselbe, denn es ist elementar: Es verlangt nach Zeit, nach meiner Zeit.
Die grössten Sorgen bereiten mir die Ukrainerinnen und Ukrainer unter der Besatzung. Sie leben in schrecklicher Gefahr, beraubt, gefoltert oder erschossen zu werden.
Bürgerinnen und Bürger, Kulturschaffende, Intellektuelle machen schon viel für die Ukraine.
Wir bräuchten aber auch Jagdflugzeuge! Wir bitten um stärkere Sanktionen gegen den russischen Staat …, aber die Sache geht langsam. Wir bleiben in Kiew, wir laufen auch nicht in den Schutzbunker. Wahrscheinlich sind wir
Fatalisten.
Evgenia Lopata, 1994, Kulturmanagerin, Czernowitz,
Foto: Meridian Czernowitz
Evgenia Lopata
Es gibt ruhige Tage, an denen ich Artikel schreibe und in Flüchtlingszentren helfe. Es gibt aber auch Tage und vor allem Nächte, in denen ich mich im Bunker voller Angst und Panik verstecke. Am schwersten fällt mir die Kommunikation mit den Flüchtlingen, die momentan in meinem Haus wohnen. Es ist sehr schwer, mit unseren neuen Traumata umzugehen.
Ich bleibe in meiner Heimatstadt Czernowitz und helfe vor Ort den Geflohenen aus der Ost- und Zentralukraine sowie mit Transportieren von Hilfsgütern aus Rumänien. Man darf die Ukraine nicht im Stich lassen. Die Ukraine ist nur der erste Schritt Putins im Dritten Weltkrieg, den er begonnen hat.
Das Paul-Celan-Literaturzentrum müssen wir bald schliessen, wegen Schulden mussten wir alle Projekte stoppen. Das Festival Meridian 2022 sollte durch Staatsmittel gefördert werden, doch diese werden nun für die Armee geopfert. Und der Verlag leidet am eingebrochenen Buchmarkt, niemand weiss wie lange noch. Es kann auch für grosse, bekannte Verlage das Ende bedeuten. Mit der russischen Aggression in der Ukraine 2014 hat sich viel verändert. Schriftstellerinnen und Schriftsteller ziehen in den Krieg. Andere, die sich sonst wahrscheinlich nie ans Schreiben herangewagt hätten, setzen ihre Erfahrungen literarisch um. Die Revolution der Würde, die Annexion der Krim und der russische Krieg in der Ukraine haben radikale soziokulturelle Veränderungen herbeigeführt und den Literaturbereich dabei auch positiv deformiert.
Oleg Ljubkiwskij, geboren 1950, Maler und Grafiker, Czernowitz, Foto: zVg
Oleg Ljubkiwskij
Noch ist es ruhig in Czernowitz, und ich arbeite so viel wie möglich zu Hause. In meinem Atelier unter dem Dach im fünften Stock ist es zu kalt. Ich halte an der Planung für Oktober 2022 fest, dann soll meine neue Ausstellung «Gelobtes Land» in Lemberg und Czernowitz eröffnet werden. Bis jetzt habe ich fünf unvollendete Bilder.
Das Schicksal Europas hängt jetzt vollkommen von der Ukraine ab, die sich mit aller Kraft der russischen «Bestie» entgegenstellt. Dieser Krieg zeigt, wem Leben, Kultur und menschliche Werte in Europa wichtiger sind als Big Business und Milliardeneinnahmen. Die intellektuelle Elite der Schweiz sollte ihre starke Stimme zur Unterstützung der Ukraine genauso wie für den Frieden in Europa erheben. Jede Stimme ist ein Beitrag zum Sieg der Ukraine über den russischen Aggressor, ein Beitrag zu ihrer Zukunft, der Zukunft unserer Kinder und ein Beitrag zur Wahrung unserer gemeinsamen Kultur.
Das Böse hat kein Daseinsrecht: Die Menschheit wurde für den Gesang der Musen erschaffen und nicht für die Salven tödlicher Kanonen. Die Kultur siegt immer über das Böse – und sie wird auch dieses Mal gewinnen!
Halyna Petrosanyak, geboren 1969, aus Tscheremoschna und
Iwano-Frankiwsk, lebt seit 2016 als Dichterin in Hofstetten,
Foto: Dmytro Petryna
Halyna Petrosanyak
Es ist sehr schwer, sich mit der neuen grausamen Realität abzufinden. Auf das Schreiben kann ich mich kaum konzentrieren. Ich gebe dafür viele Lesungen: in München, Leipzig, Basel, Luzern … Ich fühle mich verpflichtet, allen zu erklären, dass die Ukraine, die ukrainische Sprache und Kultur 1991 nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern seit Jahrhunderten besteht und von der Welt nur deswegen übersehen wurde, weil unser Nachbar uns brutal daran gehindert hat, einen eigenen Staat aufzubauen.
Mich bedrückt, dass europäische Politiker Putin in den letzten 20 Jahren einfach haben machen lassen. Putin hat Tschetschenien vernichtet, Georgien zersplittert, Syrien bombardiert und so weiter. Wieso wurde er nicht gestoppt? Wieso wurde mit ihm weiter verhandelt und gehandelt?
Die Schweiz zeigt enorm viel Solidarität, wir erwarten aber auch, dass mehr politischer Druck auf Putin ausgeübt wird. Es ist kein Geheimnis, dass russische Oligarchen ihr Geld hier deponieren und Putin nahestehende Personen das Schweizer Bürgerrecht besitzen.
Ich mache mir Sorgen um die Zukunft meines Landes, um meine Geschwister, ihre Kinder und meine Freunde in der Ukraine. Ich habe meine Nichte abgeholt, sie kam aus Lviv (Lemberg) über Krakau nach Deutschland. Sie ist Studentin, ihre Mutter militärpflichtig und muss in der Ukraine bleiben. Sie arbeitet in einem Militärspital mit Verwundeten aus der Ostukraine.
Irena Zeitz, geboren 1965, aus Lviv (Lemberg), lebt seit rund
30 Jahren in Basel. Sie ist als Organistin sowie Orgel- und Klavier-lehrerin tätig. Foto: zVg
Irena Zeitz
Die ersten Kriegswochen waren für mich der Horror. Jetzt geht es, da ich meine Mutter zu mir in die Schweiz holen konnte. Sie ist 83 Jahre alt und kann nicht mehr so gut gehen. Zwei Mal hat sie in Lviv (Lemberg) versucht, einen Zug nach Polen zu nehmen – ohne Erfolg. Die Stadt im Westen der Ukraine ist überfüllt mit Flüchtlingen. Auf dem Bahnhof stürmten die Leute die Züge. Meine Mutter konnte schliesslich zusammen mit zwei befreundeten Musikern mit dem Bus nach Warschau reisen, wo mein Mann sie in Empfang nahm. Nun wohnen alle drei bei uns – ein kleines Stück Glück im Elend. Die Wohnung meiner Mutter in Lviv fungiert nun als Flüchtlingslager, meine Nichte managt das.
Viele Freunde und Verwandte wollen aber nicht weg aus der Ukraine, sondern ihr Land verteidigen: Die Männer, die nicht an der Front sind, organisieren sich in Selbstverteidi-gungsgruppen. Sie patrouillieren auf den Strassen und vor Infrastrukturobjekten, denn es gibt auch einige Pro-Putin-Anhänger. Die russische Propaganda, zum Beispiel im russischen Fernsehen, wirkt, und es wurden im Vorfeld des Krieges auch Anhänger des Feindes gezielt ins Land eingeschleust.
Trotzdem dürfte jedem klar sein, dass Putins Idee, die Ukraine mit Gewalt in die Familie eines grossslawischen Reichs zurückzuholen, nicht funktionieren kann. Die Ukraine wird ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben, auch wenn sie jetzt militärisch besiegt werden sollte. Und ich glaube fest daran, dass die Ukraine am Schluss gewinnen wird.