«Heidi», Foto: Ingo Höhn
ProgrammZeitung aus dem Juniheft 2022, S. 15
Alpenglut und Schattenstadt
Annette Mahro
In «Heidi», seinem letzten grosses Handlungsballett
am Theater Basel, spielt Richard Wherlock mit den Kontrasten.
Alphörner blasen zum Auftakt, bevor das Naturkind Heidi einer riesigen Kuhglocke entsteigt. Mit Klischees zu geizen, war nie Richard Wherlocks Sache und mit diesem Prinzip bricht er auch diesmal nicht. Duftende Wiesen, juchzende Jodler und pure Alpenseligkeit wird es indes auch in
seiner letzten Arbeit am Theater Basel nicht geben. Eine bedrohliche Stimmung hängt stattdessen über allem, unterstrichen durch die von Tino Marthaler und Alain Pauli konzipierte und alles tragende Klanglandschaft aus elektronischen Sounds, eingeflochtenen Naturgeräuschen und wenigen, alten Filmen entnommenen Textbruch-stücken. Bruce Frenchs grundfinsteres Bühnenbild aus verschieb- und kippbaren Spitzdächern tut ein Übriges.
Umso heftiger kontrastiert damit die farbig fröhliche Ausgelassenheit der Dorfjugend im ersten Akt. Nach der Pause sind die Bewegungen eingefroren, aus den Dörflern sind zielstrebige anzugtragende Städter geworden. Und hatte eingangs noch das dem Grossvater in seiner Einsiedelei wie zugeflogene Kind das Leben des Alpöhi im Handstreich vom Kopf auf die tanzenden Füsse gestellt, so sieht die Welt im Umfeld der grauen Stadt noch einmal ganz anders aus. Da ist die diabolisch wirkende und bis zum Hals zugeknöpfte Gouvernante, deren Gezisch aus dem Off tönt: «Man muss sich beherrschen können!» Da sind aber auch als wortwörtlich tänzerisches No-Go die blasse, im Rollstuhl sitzende Klara und ihr gegenüber das Verdingkind der besonderen Art, das die Tochter aus reichem Hause hätte aufmuntern sollen, an den äusseren Umständen jetzt aber fast selbst zerbricht.
Schweizer Romanklassiker erstmals als Tanzabend.
Die dunklen Masken, mit denen sich die Dorfgemeinschaft beim Ziegenfest vom Mensch zum Gehörnten verwandelt hatten, waren ein früher Hinweis: Wherlock holt mit dem Fest, das im Original nicht vorkommt, auch noch ein Stück Basler Fasnacht auf die Alp. Während die echten Geissen bei ihm nur Requisiten sind, niedliche Tiere mit runden Hörnern und Haltegriff, stehen bei den Menschen soziales Gefälle und gesellschaftliche Distanz im Fokus. Wohlstand und Bildung konkurrieren mit Freiheit und Natur. Es geht aber auch um das Lernen voneinander. Ein Riss tut sich auf, wenn Klara am Ende auf dem Berg das Unmögliche
gelingt, wenn sie buchstäblich auf eigenen Beinen steht und ausgerechnet ihr liebender Vater das konterkariert, indem er sie zurücksetzt in den Rollstuhl. Alles – auch
diese Lehre lässt die 1880/81 erstpublizierte Story zu – hat eben seine Grenzen. Der Basler Ballettchef pfeift darauf und lehrt Johanna Spyris berühmter Schweizer Romanfigur nach einer kaum mehr zählbaren Anzahl von künstlerischen Umsetzungen erstmals das Tanzen.